Magier demobilisiert
Da machte Mose eine eherne Schlange und befestigte sie an einer Stange.

4. Mose 21, 8

Einen Teil meiner frühen Jugend habe ich täglich hoch geblickt zu einer geöffneten Haushaltsschere, die auf einer Etage über einer Wohnungstür angebracht war. Auf meine Nachfrage wurde mir zugeraunt, die offenen Klingen der Schere verhinderten, daß eine Hexe in die Behausung eindringen und Schaden anrichten könne. Mich überkam bei dieser Auskunft kindliche Fassungslosigkeit: Eine Industrieregion im späten 20.Jahrhundert und solche Zauberei! Wie paßte das zusammen? Diese Frage spitzt sich in der ersten Hälfte des 21.Jahrhunderts noch zu. Was damals als Überbleibsel magischen Verhaltens aus dörflicher Zeit belächelt werden mochte, hat eine Wiederbelebung erfahren. Alles ist möglich nach weit verbreiteter Meinung.

Die Ablehnung klassischer Religion und konkreter Konfession ist umgeschlagen in die globalisierte Erfindung religiös angehauchter Privatpraktiken. Da finden sich Steine, Sprüche und Gerüche. Dafür gibt es die entsprechenden Läden und Beratungen, und das Geschäft läuft. Auf die zugespitzte Fragestellung existiert eine alte Antwort: Wir Menschenkinder suchen zu allen Zeiten Sicherheit, Gewißheit und Orientierung angesichts immer neuer Verunsicherungen und Ängste. Naturwissenschaftlich korrekte Antworten auf Zukunfts- und Alltagssorgen allein reichen vielen Menschen nicht aus. Also helfen sie mit einer Mixtur aus mittelalterlichen und asiatischen Weisheiten nach.
Selbst in Epochen religiöser Gewißheit gab es diese Möglichkeit und wurde versucht, bereits gegebene und erprobte Garantien noch zu erhöhen durch Magie. Darüber erzählt eine urtümliche Geschichte aus der letzten Phase der Wüstenwanderung des Volkes Israel. Sie berichtet vom Glauben an den einen einzigen Gott und von magischem Tun in Kampf und Kooperation. Wieder einmal ist die Gemeinschaft der Rückkehrer erschöpft, diesmal kurz vorm Ziel. Das Genörgele macht die Lage nicht besser. Es kommt noch schlimmer durch eine Schlangenplage. Die Gegenstrategie lautet: Die Gefahr anerkennen und fest im Blick behalten! Die Schlangenstandarte veranschaulicht diesen Realismus. Mein Realismus richtet sich Epochen später auf das kahle Kreuz des Auferstandenen, das die Magier demobilisiert. Dabei sind auch die derzeitigen Wüsten im Blick. Es existieren seelische Wüsten aus der Erfahrung von Überforderung und Unterschätzung, Isolation und Vermassung. Durch die Wüste Sahara sind Migranten jahrelang unterwegs. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft brechen monatlich 15.000 Menschen aller Generationen von der westafrikanischen Stadt Agadez in Richtung Europa auf. Die Gebeine derer, die es nicht schaffen, bleichen am Wegesrand im Wüstensand. Ich möchte nörgeln, aber tatsächlich geht es um Kampf fürs Leben. Mit dem Blick auf das Kreuz in meiner Wohnung muß ich mich damit auseinandersetzen, ob ich will oder nicht. Denn "Holz auf Jesu Schulter ( ... ) ward zum Baum des Lebens". Wir verstehen uns und die Welt besser durch die Ausrichtung darauf.

25.3.2012, Sonntag Judica, MPKiZ