Einer von uns
Heinrich Rathke 90 – Mutmacher, der Frieden stiftet, Herzen und Kirchentüren öffnet

Als Gertrud Guthmann , LPG-Bäuerin in Levkendorf bei Güstrow, ihn Ende der fünfziger Jahre das erste Mal sah, sagte sie bei sich: „Dei kann noch wat rutrieten.“ So hat sie mir das zehn Jahre später erzählt und fuhr fort: „Ass hei dor so stünn up dat Fest von de Gemeen, sick allens ankickt unn mit dei Lüd sprök, dor wier dat richtig einen von uns, dei nix Bäderes sien wull, unn einen, dei wat künn .“ Levkendorf ist nicht mehr, mußte dem Flugplatz Rostock-Laage weichen, und Gertrud Guthmann hat ihre Ruhestätte bis zur Auferweckung der Toten auf dem Weitendorfer Kirchhof gefunden. Auch ihrer sei stellvertretend gedacht.

Einige Jahre nach dieser erzählten Begegnung hatte mich dann die Neugierde zu den Gottesdiensten gezogen,die der ehemalige Warnkenhäger Pastor im Saal auf dem Hof des Rostocker Friedhofswegs 11 leitete. Was macht ein Pastor aus dem Neubaugebiet Rostock-Südstadt anders und wie anders? Das war meine Frage als Theologiestudent, der die Complet in Leipzig, Jena und Rostock zu singen versucht hatte.

Im Guthmannschen Sinne gewonnen war ich aber vollends erst in den gedrängten und bewegten Gottesdiensten im Kirchwagen Rostock-Südstadt anfangs der Sechziger. Als ich einem Studienfreund begeistert etwas von der Authentizität in Liturgie und Predigt sowie den oft hinreißenden Ansagen, Werbungen für Aktivitäten und Berichten von ebensolchen („Abkündigungen“) vermitteln wollte, sagte der nach eigenen Eindrücken, das sei doch auch alles etwas simpel. In meiner Verwunderung fragte ich ihn, ob er denn anerkenne, daß sich im Kirchwagen eine Einfacheit zweiten Grades ausdrücke, hinter der doch die theologische Reflexion zu spüren wäre. Seine Skepsis blieb zunächst. Da war jedenfalls kein theologischer Flitter und rhetorischer Budenzauber.

Ich wurde 1964 Lehrvikar in Rostock-Südstadt. Als ich am 7. Oktober 1966 die Tür zu meinen ersten Gottesdienst im Kirchwagen – eine Kirche durften wir von staatswegen nicht bauen – öffnete, hörte ich deutlich eine weibliche Stimme:“Du meine Güte!“ Meinerseits dachte ich bei diesem Empfang ebenso. Es war die Bemerkung der Pfarrfrau über das akutes Verhalten eines Kindes der Familie.

Ich erinnere an die Zeit damals, in der bei einer Dienstbesprechung Erich Beyer, der Rostocker Kreiskatechet, und Heinrich Rathke frozzelten, nun erreichten sie bald die Vierzig. Es waren noch einige Jahre bis dahin, und sie wollten es nicht recht wahrhaben. Bei den Besprechungen ging es meistens um die Vorbereitung der Predigt – und das konzentriert. Manche Bemerkung des Mentors hat sich eingeprägt. So riet er dazu, selbstverständlich pro Monat eine feste Summe für Fachliteratur auszugeben. Gemessen am Einkommen, empfand ich den empfohlenen Betrag als horrende. Ich habe mich aber auch in wechselnden Staatsformen immer daran gehalten. Die unvergeßliche Marianne Rathke, geborene Rusam aus München (4.10.1933-30.1.2013), irritierte mich nach einem gemeinsamen Mittagessen in der Familie mit der Feststellung, es sei etwas viel, daß die Katechetin der Kinder auf zwei Wochenstunden Christenlehre dränge. Einmal müsse reichen. Auf mich bezogen, habe ich das so verstanden, die institutionellen Ansprüche ins Verhältnis zu den Menschen in der Gemeinde zu stellen. Als Handlanger half ich einmal bei einer Kleinreparatur, wobei mein Vikariatsleiter das Dach des Kirchwagens mit einem Lappen Leinen und heißem Teer flickte. Die größte Anstrengung war vorbei, und entspannt informierte mich der Vorsitzende des Theologischen Ausschusses der Landessynode, damals außerhalb solcher Reparatureinsätze intensiv mit dem Engagement – man dürfte auch sagen: mit dem Kampf – für die Ordination von Theologinnen befaßt: „So einfach erhalten wir hier unsere Bauten. Stellen Sie sich ‚mal die Bausorgen der Marienkirche vor!“ Über dreißig Jahre nach diesem Impuls hatte ich just an diesem Sakralbau mehr als genug Gelegenheit dazu.

Rostock-Südstadt war eine Gemeinde im Entstehen – und das in einer für solches Wachstum feindseligen Zeit. Die Erfahrungen dieses Entwicklungsprozesses haben mein gesamtes Berufsleben beglückt. In der Landeskirche pflegten manche theologische Illusionen, andere betrieben die Rereinterpretation von Volkskirche, um den Anschluß an die Wirklichkeit nicht ganz zu verlieren,manchem Kollegen vergällten Frustration und Scheitern das Leben. Bei uns war Aufbruch, und Rathke inspirierte ihn. Nicht als Star, sondern als Koordinierter. Ihm spürten die Menschen sein Interesse für sie ab. Mit dem ging er nämlich zu ihnen in die erstbezogenen Häuser der Trabantenstadt und stiftete andere aus der sich sammelnden Gruppe an, es ebenfalls zu tun. Wir gingen also hinaus in den offenen gesellschaftlichen Raum, und da er staatlicherseits geschlossen zu halten gesucht wurde, klingelten wir, und tatsächlich ließ sich dieser Raum entgegen der Doktrin öffnen. In ihm begegneten wir jungen Menschen und ihren Familien, die viel erreicht hatten. Nun kamen wir, zurückhaltend zwar,aber ganz unangemeldet, hinzu. Was wollten sie noch? Was wollten wir ? So etwas nennen andere einen gesellschaftlichen Diskurs. Rathke gewann in ihm z.B. die Einsicht, die Südstadt brauche noch vor einem Kirchbau auch einen Kindergarten in unserer Verantwortung.

Da die Machtverweser das ignorant, ängstlich und dreist ablehnten, lud die Gemeinde junge Mütter mit Kleinkindern zu Beratung und Betreuung in die durch ihre Bescheidenheit auffälligen Räumlichkeiten Am Pulverturm 4 am Rande des Viertels ein. Ich erzähle das etwas ausführlicher,weil Peter Cornehl einst im „Forum Nordkirche“ das Gegenteil verbreitet hat, im Osten wären die Christen immer so verdruckst herumgelaufen und hätten nach 1989 dieses Verhalten gleich beibehalten.

Wer ist seit den achtziger Jahren in die Weiten Kasachstan zu der evangelischen Diaspora aufgebrochen und hat Menschen aus der Landeskirche mitgerissen? Damals lernten wir im Mecklenburgischen Namen ferner Glaubensgeschwister kennen und manchmal sie selbst, z.B. Eugen Bachmann, Peter Urie, Heinrich Nazarenus, Albert Rau., Ruben Sternberg … . 1992 wurde er für einige Zeit Bischöflicher Visitator der Lutheraner in Kasachstan, eingesetzt von Harald Kalnins, Rigaer Bischof der ELKRAS (Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien). Die Mecklenburger sind ebenso in kirchlicher Partnerschaft mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rumänien verbunden. Was für Weiten, Länder und Biografien!

Heinrich Rathke hielt sich bewußt und strikt an die Begrenzung der Amtszeit und wurde nach dem Schweriner Bischofsamt wieder Gemeindepastor in der Kleinstadt Crivitz. 1989 setzte er sich dort erfolgreich für den gewaltfreien Übergang zur Demokratie ein. Es ging immer ins Offene. Dafür steht mehr als nur eine Himmelsrichtung. Dabei ist Heinrich Rathke in Mecklenburg verwurzelt und hat wohl daran gedacht, wenn er sich mehr als einmal vor der Landessynode zur Wirklichkeit von Heimat äußerte. Tenor: Heimat ist da, wo ich gewollt, gebraucht und geliebt werde. Das hat er 1971, als mecklenburgischer Landesbischof gerade ein Jahr im Dienst, vor der Eisenacher Bundessynode im Bonhoefferschen Horizont ausformuliert. „Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für andere ist.“ Das ist ein Zitat, und das ist Signum einer Biografie, wurde wieder Lockruf auf den Weg in die Zukunft. Der Referent hat seinen Vortrag damals mit mehreren Gruppen und Einzelpersonen geplant und reflektiert. Uwe Schnell, Direktor des landeskirchlichen Predigerseminars, und ich, inzwischen Rathkes Nachfolger in Rostock-Süd, wurden in der Vorbereitungszeit auch einmal in die Güstrower Hansenstr. 5 eingeladen, in das Amt für Gemeindedienst , kurzzeitige Arbeitsstelle des bereits zum pastor pastorum Gewählten Wir hörten und debattierten. Mein Beitrag zum Referat war das Zitat von Tucholsky über die heraushängende Zunge als Kennzeichen der großen Kirchen.

In allen seinen Diensten hat er sich viel zugemutet , und wir alle haben ihm viel zugemutet, aber auch mitzutragen versucht. Dabei hatte er Unterschiede auszuhalten. Natürlich trat er für Reisefreiheit ein, aber er redete ebenso Kolleginnen und Kollegen ins Gewissen, die ihre Gemeinde für immer verlassen wollten. Ich selber habe ihm einige Male gesagt, daß ich die Orientierung der ökumenischen Arbeit auf die römische Kirche für überproportional halte. Das betraf nicht ihn allein und ist keine Mehrheitsmeinung. Eine eindeutige Mehrheit erhielt sein Vorschlag beim Weggang aus Rostock, die hanseatische Halskrause für den Kirchenkreis abzuschaffen. Im z. Z. nicht auffindbaren Protokollbuch des Konvents hat sich damals als einzige Gegenstimme Hugo Niemann, Pastor an Heiligen Geist, namentlich aufführen lassen. Ich arbeitete auf dem Lande in Kritzkow und war für den Antrag,als ich davon hörte. Angesichts des Niedergangs der liturgischen Kleiderordnung finde ich es inzwischen bedauerlich, daß dieses Stück gewachsener liturgischer Kultur verlorengegangen ist.

Bedenklich erscheint mir, daß auch Heinrich Rathkes Zeit für künftige Generationen wohl vor allem aus dem Buch über die DDR-Kirchenpolitik 1971-1989 gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs aus der Feder Rahel Franks erschlossen werden wird. Es ist etwa unseren zuwandernden Nordelbiern als billige Informationsquelle zuhanden. Abgesehen von krassen Fehleinschätzungen, ergibt die Verengung auf eine Schlüssellochperspektive kein reales Bild von der Geschichte und den in ihr handelnden Personen. Die Erscheinung ist reicher als das Gesetz, und die Kirche Mecklenburgs hat in den siebziger Jahren beeindruckende Aufbrüche erlebt. Ich möchte, daß der theologische Pluralismus unserer gar nicht so kleinen einstigen Landeskirche zur Sprache gebracht und entfaltet, nicht aber alles über diesen mageren Leisten geschlagen wird. Solchen geistlichen Reichtum müßten wir den newcomers aus Nordelbien schon gönnen. Uns auch.

Seine Erfahrungen hat er getreulich protokolliert. Sie interessierten keinen Editor. Er konnte seine Lebenstheologie zum Glück einem Kreis von Freundinnen und Freuden anvertrauen, die „Wohin sollen wir gehen?“ Der Weg der Evangelischen Kirche in Mecklenburg im 20. Jahrhundert. Erinnerungen eines Pastors und Bischofs und die Kämpfe mit dem Staat , hgg. Von W. Nixdorf u.a. Kiel 2014, publizierten.. Dazu kam eine Festschrift zum 85.Geburtstag („Kirche für andere – Kirche mit anderen“ (Wismar 2014), worin die Rathkeschen Anstöße dokumentiert und ihr Zukunftspotential veranschaulicht werden. Schwerpunkte seiner theologischen Existenz hat er im Titel des Märtyrer-Buches benannt, das er zusammen mit Björn Mensing herausgegeben hat: „Mitmenschlichkeit, Zivilcourage, Gottvertrauen“ (Leipzig 2003). Gerrit Ebneter und Christiane Bauman haben über das Leben dieses Mutmachers im Dezember 2014 einen Film von 82 Minuten gemacht („Altbischof Heinrich Rathke. Ein erzählter Lebenslauf“).

Das alles ist nachhaltiges Bekenntnis und gelebte Geschichte geworden. Am 12.12.2018 wird er 90 Jahre alt. Es wird stiller. Mariannes und seine gemeinsamen sieben Kinder mit ihren Familien sind um ihn – Freundinnen und Freunde aus alten Zeiten, den vorigen Jahren, halten Kontakt.Der Regenbogen Gottes über allen zeugt von Hoffnung und Treue in Zeit und Ewigkeit.

Klare Kante gegen die Stasi – Heinrich Rathke hat seine Autobiografie veröffentlicht:
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